Sonntag, 21. Juni 2015

#6 I'm not good at saying goodbye

Nur noch wenige Minuten. Ich schaue auf die Uhr. Es ist unmöglich, jetzt noch pünktlich zu kommen. Eine Viertelstunde zu spät kommen, naja, das wäre schon irgendwie noch erlaubt, aber so wie es aussieht, werde ich alles verpassen! Was jetzt? Warum hilft mir niemand? Warum musste das so kommen? Warum ist das kein Traum, warum passiert das ausgerechnet mir? Ich laufe los, immer schneller, ich renne, meine viel zu engen Schuhe reissen die Blasen an meinen Füssen auf. Ich ignoriere die Schmerzen und renne weiter, aber es kommt mir so vor, als würde ich kaum vom Fleck kommen; als wäre das Ende der Strasse noch so weit entfernt. Bei jedem Schritt fühlt es sich an, als ob ich eine Tonne mitschleppen würde; mein Kleid und meine Tasche scheinen bleischwer zu sein. Ich kriege kaum noch Luft, trotzdem höre ich nicht auf zu rennen. Ich darf nicht zu spät kommen, nein, nicht heute, ich kann doch meine eigene Abschlussfeier nicht verpassen?!

yellow15

Augen auf, Traum weg. Ich schnappe nach Luft und fühle mich, als wäre ich tatsächlich gerannt. Meine Beine fühlen sich schwer an und ich habe stechende Kopfschmerzen. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es erst 07:15 ist. Ich schliesse die Augen und schlafe kurz darauf erneut ein, träume allerdings noch grösseren Blödsinn (= das Haus meiner Nachbarn brennt ab, ein seltsamer Mann raucht in unserem Garten eine Zigarette und ich beobachte ihn vom Fenster aus, ein schwarzer Hund jagt mich durch die Gegend). Warum träume ich von meiner Abschlussfeier und warum war der Traum so unangenehm? Als ich noch Unterricht hatte, habe ich regelmässig von der Schule, von Lehrern und von Mitschülern geträumt. Die Träume waren nicht immer schlecht/komisch, aber vor Prüfungen/Vorträgen/vor der Notenabgabe war halt schon mal ein schlimmer Traum dabei... Meistens konnte ich damit was anfangen und irgendwie nachvollziehen, warum ich diesen Stuss geträumt hatte, aber jetzt...? Nun, wahrscheinlich liegt es daran, dass die Abschlussfeier schon in wenigen Tagen ist. Hilfe!

Mittags vibriert mein Handy. Im Gruppenchat unserer Klasse wird gefragt, ob wir alle kommen werden. "Ich hab ja eigentlich keine Lust, fühle mich aber irgendwie verpflichtet", schreibt jemand. Und so fühle ich mich auch. Natürlich werde ich hingehen, aber ich weiss jetzt schon, dass ich das mit gemischten Gefühlen tun werde. Die meisten Abschlussfeiern finde ich ein bisschen fake. Alle sind nett, alle werden dich vermissen und alle wünschen dir nur das Beste für deine Zukunft. Alle sind so übertrieben nett, aber die letzten drei Jahre lang hab ich nicht viel davon gemerkt. Natürlich war meine Klasse alles andere als einfach, aber wenn uns Leute viel Glück und nur das Beste und was-weiss-ich wünschen werden, nachdem wir als Nichtsnutze, Verkäufer/innen, Schüler, die zu schlecht fürs Gymnasium waren, und Steuergeldverschwendung bezeichnet wurden, finde ich das schon fake.
Wir kriegen ein wichtiges Stück Papier mit wichtigen Zahlen drauf. Der Gedanke an diese Zahlen hat uns manchmal verzweifeln lassen und uns den Schlaf geraubt. Schlussendlich sind die Zahlen dann aber nicht mal mehr wichtig für meine weitere Zukunft; wichtig ist, dass ich überhaupt ein solches Stück Papier habe. Was darauf steht, ist plötzlich Nebensache. So viel Drama für ein Stück Papier...

Stop.Pessimismus-Modus abschalten. Ich werde über das, was ich gerade geschrieben habe, sowieso hinwegsehen. So schlimm ist das gar nicht, so schlimm war das gar nicht, so schlimm wird das gar nicht werden. Ich hatte ja auch viele tolle Erlebnisse während meiner Schulzeit, auch wenn ich das - je nach Tagesform - gerne mal vergesse.
Was ich wirklich am schlimmsten finde, ist der Abschied. Ich nehme nicht gerne Abschied, es macht mich immer so traurig und ich bin nicht gut darin, Tschüss zu sagen. Man geht und lässt so vieles zurück. Der Gedanke an einen Neuanfang ist unbequem, man hat sich schliesslich an so vieles gewöhnt : Wo welches Zimmer ist, wie die Lehrer heissen, was man in der Mensa essen sollte und was nicht, bei welcher Toilette man am wenigsten lang anstehen muss, bei welchem Lehrer man zu spät kommen kann, ohne dass man eine Standpauke über sich ergehen lassen muss, wann die Freunde aus anderen Klassen Unterrichtsschluss haben, sodass man mit ihnen an den Bahnhof laufen kann... Das alles ist weg und man fängt an einem anderen Ort wieder von vorne an. Dabei besteht das Leben aus so vielen Neuanfängen... Ich frage mich, ob es einen Zeitpunkt gibt, an dem diese gemischten, seltsamen Gefühle gegenüber Neuanfängen aufhören und man ihnen ganz anders gegenübersteht.

Es ist nicht so, dass ich noch länger zur Schule gehen möchte. Ich bin ganz froh, dass ich einige Fächer für immer los bin. Trotzdem ist es komisch, wenn sich nach 13 Jahren alles so ändert. Ich weiss, dass tolle Dinge auf mich warten: Nizza, die Fachhochschule, irgendwann dann hoffentlich eine Stelle bei einer Zeitung... Und dennoch macht mich der Gedanke an die Abschlussfeier und den damit verbundenen Abschied von der Schule traurig und ich erwische mich dabei, wie ich mir einrede, dass die Sachen, die mich damals aufgeregt hatten, doch gar nicht so schlimm waren...

Ich wünschte, ich könnte mein Gedankenchaos abschalten. Es wird schon alles gut werden, ich hab ja mein Tattoo, das mich genau daran erinnert. Tout ira bien.


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